Der Zyklus des GR_Aktuell-Forums „Ist das antike Griechenland noch aktuell?“ wird fortgesetzt mit einem sehr interessanten Interview von Griechenland aktuell mit Dr. Georgios Deligiannakis, außerordentlicher Professor an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften – Studien zur griechischen Kultur an der Open University of Cyprus (OUC).  

Deligiannakis hat zwei Bücher über den langen Prozess der Christianisierung der antiken Welt geschrieben, mit einem Schwerpunkt auf der Ägäis und Zypern. Außerdem hat er einen Führer durch die Spätantike veröffentlicht. Seine Forschungsarbeiten in Griechenland, Zypern und im Ausland konzentrieren sich derzeit auf die Veränderungen, die die christliche Weltanschauung in der spätantiken Gesellschaft in Bezug auf die Einstellung der Menschen zum Lachen und die Rolle des Komischen in ihrem Leben mit sich brachte. Wir wollen mit ihm über die Relevanz und Bedeutung seiner wissenschaftlichen Forschung für den heutigen Menschen sprechen.

1. Was war der Auslöser für Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der Spätantike, der griechisch-römischen Welt und dem Christentum?

In den 1990er Jahren hatte man gerade erst begonnen, die Spätantike (200-800 n.Chr.), als eine eigenständige Periode der Geschichtswissenschaft im Zwischenraum zwischen der Antike und dem Mittelalter/Byzanz wahrzunehmen. Damals erschienen die ersten Bücher über diese bis dahin kaum untersuchte historische Periode, darunter die des „Architekten der Spätantike“, des irischen Historikers Peter Brown (1935-), in griechischer Sprache. Die Untersuchung der Christianisierung Griechenlands und des griechischen Ostens aus einer neuen historisch-archäologischen Perspektive steckte noch in den Kinderschuhen. Gleichzeitig begünstigten der Zusammenbruch des Kommunismus und das Aufkommen der Nationalismen auf dem Balkan Betrachtungen zur eigenen Geschichte und Identität, die sich auf Zeiten der Krisen und Intoleranz konzentrierten. Mein Interesse an den religiösen Strömungen der hellenistischen und römischen Welt führte mich allmählich zu der Zeit, die als Erweiterung der hellenistischen Ökumene fungiert. Und natürlich verdanke ich der Anleitung durch inspirierende Professoren wie Polymnia Athanassiadi und Simon R.F. Price sehr viel.

2. Beschreiben Sie das Ausgrabungsprogramm, das Sie im antiken Messene leiten, und die Situation in Bezug auf Ressourcen, Infrastruktur und Ziele.

Das antike Messene im Südwesten der Peloponnes ist eine der wichtigsten archäologischen Stätten in Griechenland. Dies ist das Ergebnis von fast vier Jahrzehnten Ausgrabungs- und Restaurierungsarbeiten des kürzlich verstorbenen Direktors der Grabungen, Professor Petros Themelis (1936-2023). Ziel des Ausgrabungsprogramms der Open University of Cyprus war es, die Umwandlung der Stadt in eine christliche Stadt und die Koexistenz von heidnischen und christlichen Völkern besser zu verstehen. Das reiche archäologische und epigraphische Material macht den Fall Messene besonders geeignet für die Untersuchung dieses Phänomens. Unser Projekt wurde von der Open University of Cyprus sowie von gemeinnützigen Institutionen aus Zypern und den USA gefördert.

3. Welche Vorteile hat Ihnen der Besuch und die Feldforschung an Universitäten und Zentren im Deutschland und im Ausland angeboten?

Ich hatte die Gelegenheit, einige Zeit in Deutschland zu verbringen, zunächst als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung in Berlin und dann als Gastwissenschaftler an der Universität Rostock.  Aber auch in den USA und in England. Bibliotheken, Museen, Seminare und Kontakte mit Kollegen haben mir bei meiner Forschung sehr geholfen. Die Erfahrung, Teil verschiedener akademischer und wissenschaftlicher Ökosysteme zu sein, trug wesentlich zum Fortschritt und zur Reifung meiner Forschungsarbeit bei.

4. Welche Forschungsinteressen verfolgen Sie gegenwärtig und in naher Zukunft, und wie sieht es mit deren Veröffentlichung aus?

Nachdem ich bereits zwei Bücher über den langen Prozess der Christianisierung der antiken Welt mit Schwerpunkt auf der Ägäis und Zypern sowie einen Führer durch die Spätantike veröffentlicht habe, habe ich mich in letzter Zeit den Veränderungen zugewandt, die die christliche Weltanschauung in der spätantiken Gesellschaft in Bezug auf die Einstellung der Menschen zum Lachen und die Rolle des Komischen in ihrem Leben mit sich brachte. Dies ist ein Thema, das noch nicht ausreichend untersucht wurde. Es mag manche an Umberto Ecos berühmten Roman Der Name der Rose (1980) erinnern. Darin beruft sich der Mönch Jorge de Burgos auf die lachfeindliche Predigt von Johannes Chrysostomos (349-407) und das Beispiel Christi, der nie gelacht hat, um die Morde zu rechtfertigen, die er selbst begangen hat, um das verlorene Manuskript des Aristoteles über die Komödie vor der Menschheit geheim zu halten. Ich habe bereits die ersten wissenschaftlichen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht und plane, ein Buch zu schreiben, das von einer breiten Leserschaft gelesen werden kann. Außerdem plane ich, riesige offene Onlinekurse (MOOCs) zu produzieren.

5. Glauben Sie, dass die griechischsprachige und ausländische Öffentlichkeit genug über die Spätantike und die Unterschiede als auch die fruchtbaren Konvergenzen des Christentums mit der Antike weiß?

Die europäischen Völker, insbesondere seit der Renaissance, wandten sich häufig der Antike zu, um die Herrschaft ihrer kirchlichen und weltlichen Autoritäten in Frage zu stellen und neue Lebensformen zu entwickeln. Die Spätantike als die Zeit, in der sich das frühe Christentum durch den Kontakt mit der antiken Literatur und Philosophie herausbildete, war stets ein Bezugspunkt.

Im Falle des neu gegründeten griechischen Staates ist die Frage des Verhältnisses zwischen Hellenismus und Christentum mit der nationalen Identität seiner Bewohner verwoben, was oft zu heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Experten und Nichtfachleuten führt. Es ist bezeichnend, dass Konstantinos Paparrigopoulos (1815-1891), der als „der neue Herodot der griechischen Geschichtsschreibung“ gilt, große Schwierigkeiten hatte, die Quellen dieser Zeit mit seiner Grundthese von der harmonischen Kontinuität der griechischen Nation von der Antike bis zur Neuzeit in Einklang zu bringen.

Als Zeugnisse eines allgemeineren Interesses an den „Kulturkriegen“ der Spätantike kann man den weltweiten Erfolg von Catherine Nixeys Buch The Darkening Age. The Christian Destruction of the Classical World (London 2017, auf Deutsch 2019, auf Griechisch 2022) und, etwas früher, Alejandro Amenábars Film Agora (2009) über das Leben und den Tod der Philosophin Hypatia (370-415 n. Chr.) in Alexandria anführen. Es ist anzumerken, dass die Inspiration für beide Werke der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts war. Die Kontroversen zwischen denjenigen, die eine grundsätzlich harmonische und kreative Beziehung zwischen der klassischen Tradition und der frühen Kirche verteidigen, und denjenigen, die argumentieren, dass das Christentum die antike griechische Kultur zerstört hat, sind auch heute noch Gegenstand des öffentlichen Dialogs, werden aber in Griechenland und im Ausland oft in einem Klima starker ideologischer Polarisierung oder in Form von Vereinfachungen geführt. Die vom Universitätsverlag Kreta (GR «Πανεπιστημιακές εκδόσεις Κρήτης») herausgegebene Reihe Dialoge mit der Antike (GR «Διάλογοι με την Αρχαιότητα») bietet eine fruchtbare Einführung in die Texte der nachklassischen Welt.

6. Letztlich sind Sie der Meinung, dass die historische Erforschung der Spätantike im östlichen Mittelmeerraum nur einen kleinen Kreis von Wissenschaftlern auf selbem Gebiet oder im Allgemeinen den heutigen Menschen, der in der Tat mit Polykrisen konfrontiert ist, betrifft?

Eines der Hauptmerkmale der Spätantike war die massenhafte Völkerwanderung auf der Suche nach einem besseren Leben auf dem Gebiet des Römischen Reiches. Dieses Phänomen brachte gleichsam tektonische Veränderungen mit sich: Es führte zum Zusammenbruch seines westlichen Teils (und verbreitete die Angst vor dem Ende der Zivilisation), schuf aber gleichzeitig eine neue Welt, die der römisch beeinflussten mittelalterlichen Königreiche, der Vorläufer der modernen europäischen Völker, und der arabischen Zivilisation auf der arabischen Halbinsel, im Nahen Osten und in Afrika. Vor allem aber markiert diese Epoche die rasche Ausbreitung zweier neuer Religionen auf globaler Ebene: des Christentums und des Islams. Diese Religionen, die mit der antiken Welt des Mittelmeerraums und den Regionen des Iran sowie Zentral- und Ostasiens konfrontiert wurden, setzten einen langen Prozess radikaler Veränderungen (politisch, wirtschaftlich, sozial, religiös und kulturell) in Gang, aus dem die moderne Welt hervorgegangen ist. Bei diesem Prozess handelt es sich nicht nur um das Zusammentreffen der griechisch-römischen Tradition mit dem Christentum, sondern um eine kulturelle Explosion von globalem Ausmaß.

Das ungleiche Verhältnis zwischen Europa und dem Islam und der dynamische Aufstieg Chinas, Zentralasiens und der arabischen Welt haben der historischen und archäologischen Erforschung von Epochen und Regionen, in denen diese Kulturen aufeinandertrafen, einen bedeutenden Impuls verliehen. Ein Beispiel dafür ist die Blütezeit der Ausstellungen und Bücher über die Seidenstraßen zwischen Ost und West. Andererseits hat die Eroberung Roms durch die Westgoten im Jahr 410 n. Chr. das Interesse und vor allem die Ängste des Westens (oder eines Teils davon) vor dem Niedergang seiner Zivilisation vom Mittelalter bis in die Gegenwart immer wieder angeheizt.

Die Spätantike kann heute historische Einblicke in eine Vielzahl aktueller Probleme bieten: den „Kampf der Kulturen“, das Erbe Griechenlands, Roms und des Christentums in einem nachchristlichen, multikulturellen Europa, die Erfahrung einer Pandemie (z. B. die Justinianische Pest) oder der Zwangsmigration und Instrumentalisierung ärmerer Völker.

Die Kommunikation zwischen den professionellen Historikern und Archäologen und der Zivilgesellschaft, insbesondere über digitale und soziale Medien, ist heute direkter und interaktiver als je zuvor. Man denke nur an die zahlreichen Podcasts zum Thema Geschichte im Internet (z. B. Radio Wissen, Deutschland Funk – Der Rest ist Geschichte, Byzantium and Friends, BBC Radio4 – In Our Time, Archaeostoryteller usw.).


Dr. Georgios Deligiannakis ist außerordentlicher Professor an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften – Studien zur griechischen Kultur an der Open University of Cyprus (OUC).  Er wurde in Piräus geboren. Er studierte an der Universität Athen und an der Universität Oxford. Er hat etwa sechzig Artikel über Archäologie, Epigraphik, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der spätrömischen und byzantinischen Zeit veröffentlicht. Sein erstes Buch „The Dodecanese and the Eastern Aegean Islands in Late Antiquity, AD 300-700“ wurde von Oxford University Press veröffentlicht (2016). 2022 erschien seine zweite Monographie „A Cultural History of Late Roman Cyprus“ und er hat einen einen Führer durch die Spätantike auf Griechisch (2020) herausgegeben. Er war Gastwissenschaftler an den Universitäten Princeton, Ohio State, Humboldt, Rostock, Harvard/Dumbarton Oaks, University of London/Warburg Institute und Bologna. Von 2020 bis 2024 war er Leiter einer universitären Ausgrabung an der archäologischen Stätte des antiken Messene (OUC Basilica Excavation Project).

Kontaktangaben:

Dr. Georgios Deligiannakis (BA Athens, MPhil & DPhil Oxford)
Associate Professor, Programme in Hellenic Studies – Open University of Cyprus (OUC)
PO Box 12794, 2252, Latsia, Cyprus
Tel.: 00357 22 411984 , http://ouc.academia.edu/GeorgiosDeligiannakis

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