Als Sohn griechischer politischer Flüchtlinge wurde Asteris Kutulas in Rumänien geboren und zog später mit seiner Familie in die DDR. Er studierte Germanistik und Philosophiegeschichte an der Universität Leipzig, übersetzte zahlreiche Werke bedeutender griechischer Autoren ins Deutsche, so z.B. von Konstantinos Kavafis, Giorgos Seferis, Jannis Ritsos und Odysseas Elytis, sowie die Autobiographie, verschiedene Schriften und Gedichte von Mikis Theodorakis. 1980 begann Asteris Kutulas seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten, er organisierte weltweit Konzerte und produzierte rund 30 CDs. Als Regisseur war er zunächst im Dokumentarfilmbereich tätig und schlug dann einen ganz eigenständigen Weg ein mit den hybriden Filmen „Recycling Medea“ und „Dance Fight Love Die – With Mikis on the Road“. Asteris Kutulas‘ Filmschaffen hat einen direkten Bezug zu Griechenland und wendet sich an ein internationales Publikum. 2015 initiierte Asteris Kutulas zusammen mit Ina Kutulas das Filmfestival „Hellas Filmbox Berlin“. Basierend auf einem reichen Erfahrungsschatz aus der Zeit seiner Zusammenarbeit mit dem Lichtarchitekten Gert Hof und aus seiner dramaturgischen Tätigkeit im Entertainment-Bereich entwickelte Asteris Kutulas mit Liquid Staging eine neue Eventform und reagiert so auf die Bedürfnisse und Sehgewohnheiten jüngerer Generationen. Seine Film-Raum-Installationen sind allerdings Erlebnisfelder für ein Mehrgenerationen-Publikum.
Griechenland Aktuell sprach mit Asteris Kutulas über seine Pläne und die laufenden Projekte.
Mikis Theodorakis und Asteris Kutulas Anfang der 80er Jahre in Berlin
Erzählen Sie uns von Ihren jüngsten Projekten ELECTRA 21 und MEDEA 21.
Diese beiden Projekte vereinen auf sehr moderne Weise Musik, Tanz, Lyrics, Film und Installation. Stellen Sie sich das so vor: Das Publikum in der Mitte, vier große Leinwände drum herum. Bei anderen Produktionen könnten es mehr oder auch weniger Screens sein. Bei den Hofer Filmtagen habe ich das zusammen mit meinem Team bereits zweimal realisiert. Also: In einem großen Raum vier Leinwände, auf jeder ein Film, alles gleichzeitig, absolut synchron zur Elektra- bzw. zur Medea-Musik von Mikis Theodorakis. Ich wollte mit diesem neuen Show-Format die Geschichten der beiden faszinierenden Frauengestalten neu und anders erzählen, wobei die Zahl 21 für das 21. Jahrhundert steht.
Wir haben 2011 die Ballettaufführung der „Medea“ und 2018 die der „Electra“ mit der fantastischen Musik von Mikis Theodorakis und der großartigen Choreografie von Renato Zanella im Apollo-Theater auf Syros gefilmt. Maria Kousouni als Medea und Sofia Pintzou als Elektra sind Weltklasse, und sie tanzen „auf Leben und Tod“. Das muss man einfach gesehen haben … auch wie unsere Cinematographer Michalis Geranios die Medea und James Chressanthis (ASC) die Elektra gefilmt haben.
2021 und 2022 verschmolz ich das „Electra“- und das „Medea“-Filmmaterial mit meinem Liquid-Staging-Konzept, und so entstanden ELECTRA 21 (63 Minuten) und MEDEA 21 (45 Minuten): Da das Publikum bei jedem der beiden Projekte jeweils vier verschiedene Filme gleichzeitig erlebt, sieht jeder Zuschauer einen anderen Film, weil jeder jeden Augenblick entscheidet, wohin er schaut und welchen „Film“ er sieht. Jeder im Publikum macht im Kopf seinen eigenen Filmschnitt. Am Schluss hat kein Zuschauer dasselbe gesehen. Es ist ein neues, ein „polydimensionales Sehen“. Ein immersives Kino-Erlebnis.
Sie gehören zu den Schöpfern des innovativen Kinos und benutzen dabei Themen aus antiken Dramen. Warum sind diese Stoffe für Sie immer noch interessant?
Für mich sind sie aktuell, relevant, brisant. Die Storyline des Sophokles-Thrillers „Elektra“: Es geht um Macht. Agamemnon, der Vater, opfert seine Tochter Iphigenie, um in den Krieg gegen Troja ziehen zu können. Seine Ehefrau erschlägt ihn darum zehn Jahre später. Ihre beiden Kinder Elektra und Orest töten wiederum viele Jahre danach die Mutter. Ein Kreis des Hasses und der Rache, der zur Vernichtung der Institution der Familie führt. Ein zeitloses Thema.
Bei der „Medea“ von Euripides führt derselbe Teufelskreis zur Vernichtung jeder Hoffnung auf Zukunft. Auch das hochaktuell. Aus Liebe zu Jason verrät Medea ihre Familie, erschlägt ihren Bruder und flieht aus der Heimat. Sie und Jason haben bald zwei Söhne, aber Jason bleibt nicht bei Medea, die in seinem Land eine Fremde ist. Glauke, die Tochter des Königs, ist eine wesentlich bessere Partie. Medea will sich mit Jason nicht arrangieren; sie tötet aus Rache ihre Rivalin Glauke, und dann tötet sie ihre beiden Söhne, um Jason auf ewig leiden zu lassen. Medea, die ihren Status verlor – eine Kindsmörderin. Wäre sie „einfach vernünftig“ geblieben, wäre das alles nicht passiert. Jason, der Ehemann und Vater, ebenfalls in einem Macht- und Dreieckskonflikt gefangen. Schließlich die Kinder, die von der eigenen Mutter erschlagen werden – die unschuldigen Opfer der ungelösten Erwachsenen-Konflikte. Genauso wie die Elterngeneration von heute ihre Kinder und Enkel nicht in die Klubs zum Feiern, sondern auf das Schlachtfeld zum Sterben schickt.
Wie in vielen Netflix-Serien handeln „Medea 21“ und „Electra 21“ von Hass, Tod, Verlust der Identitäten, von Heimat, Liebe, Familie und Gemeinschaftlichkeit. Das Zerstörerische tritt immer deutlicher zutage. Wir alle erfahren dies heute weltweit in vielen Krisen und Kriegen. Diese Geschichten zeigen wir in „Medea 21“ und „Electra 21“ auf neue Art und Weise. Durch die Liquid-Staging-Ästhetik ist ein viel spannenderes und emotionaleres Storytelling möglich, das zudem dem „neuen Sehen“ der jüngeren Generationen entspricht, desillusioniert und dynamisch.
Die Zuschauer müssen sich orientieren: Wo läuft welcher Film? Welcher „Film“ läuft insgesamt ab? Mehrere in einem Raum parallel ablaufende visuelle Erzählstränge, die ein neues cineastisches Erlebnis schaffen, fordernd und überwältigend zugleich. Ich empfinde das als der dramatischen Gegenwartssituation mit ihren vielen Umbrüchen angemessen. Ich habe Schwierigkeiten, in einem Sessel zu sitzen und auf einen Bildschirm zu schauen. Ich bin nicht so drauf in diesen Zeiten. Ich will sie anders packen.
Mikis Theodorakis ist vor einem Jahr gestorben. Wann haben Sie ihn kennengelernt? Wie konnte Ihre Freundschaft und Zusammenarbeit so lange dauern?
Ich habe Mikis 1980 kennengelernt, als ich Germanistik und Geschichte der Philosophie in Leipzig studierte. Ich traf auf einen Mikis Theodorakis – durch und durch Künstler. Wach, genial, belesen, humorvoll, total offen, neugierig. Von ihm ging eine unbändige Energie aus – das hat mich an ihm am meisten fasziniert. Dieses Pulsierende, Lebendige, Anarchische. In seiner Gesellschaft tankte ich ununterbrochen „Poesie“ und atmete das existentielle „Gefühl von Freiheit“. Es traf auf das, was ich studierte und wofür ich mich interessierte. Es war eine Art von Doping. Unsere langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit beruhten darauf, dass Mikis Theodorakis mich von Anfang an als „Künstlerkollegen“ akzeptierte, obwohl uns 35 Jahre Altersunterschied trennten und ich noch am Anfang stand. Das war eine seiner faszinierenden und beglückenden Grundeigenschaften: Mikis hatte diese Offenheit, dieses starke Interesse. Für ihn war das Leben ein permanenter Workshop. Wir kooperierten künstlerisch und tauschten uns aus über Dichtung, Philosophie, Musik, Politik, bildende Kunst, Film, Tanz. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden viele Bücher, einzigartige Alben, Filme, Interviews, Konzept-Touren, exklusive Musik-Produktionen, Ausstellungen und vieles mehr.
Welche Zukunftspläne haben Sie noch im Hinblick auf all das, was Theodorakis‘ als vielfältiges und überreiches Werk hinterlassen hat?
Ich kannte Mikis Theodorakis als einen sehr authentischen, wirklichkeitsnahen Menschen, sehr „bodenständig“, wie man im Deutschen sagt. Das blieb er bis ins hohe Alter hinein. Er sagte: „Das Alter muss gezeigt werden, filme, fotografiere mich so, wie ich bin.“ Und so stellte er sich auch vor „sein“ Publikum, im Rollstuhl, ohne Angst und Eitelkeit, konzentriert auf die Musik, die ihn in diesen Momenten zusammen sein ließ mit den tausenden Menschen, die da waren. Das war so etwas wie die „Honigpumpe“ von Beuys – ein sehr alter Mann in einem Rollstuhl, aber es geht nicht darum, sondern man ist im Lied, in der Melodie, im Text, in etwas, zu dem man sagt: Ich komme von da. Mikis ist aus der Lyrik gekommen, und dann hat der Klang ihn eingeholt.
Als ich in den Neunzigerjahren Mikis‘ drei „Lyrischen Tragödien“ – wie Mikis seine Opern nannte – „Medea“, „Electra“, „Antigone“ hörte, beschloss ich, eine „Thanatos-Trilogie“ zu machen: Über „Killing the Children“ in Medea, „Killing the Parents“ in Electra und „Killing Democracy“ in Antigone. Zusammen mit meiner Ko-Autorin und Ko-Produzentin Ina Kutulas arbeiten wir seit 2018 an diesem Konzept, das Mikis sehr gefallen und unterstützt hat. Dieses Konzept haben wir „in verschiedene Formate gegossen“. Ein Format ist das Liquid-Staging-Kino-Format. Ein weiteres Format ist eine Live-Bühnen-Version: Zusammen mit Renato Zanella und Ina Kutulas habe ich eine Ballett-Tetralogie entwickelt. Der Titel: „Thanatos Trilogy + Epilogue: Make Love not War“. Das bedeutet: Medea – Electra – Antigone – Lysistrata in einem Tanz-Film-Event. Mikis‘ Musik in diesen vier Werken ist sehr cineastisch, sehr modern. Rhythmisch, dramatisch, lyrisch – und dann diese Theodorakis-Melodien, die einfach einzigartig sind.
Aktuell arbeiten wir mit Achilleas Gatsopoulos, Michalis Argyrou, Ina Kutulas und weiteren Künstlern am SATELLITE CLIPS PROJECT, das auf innovative und spezifische Weise bildende Kunst und Film miteinander verbindet. Es zeigt, wie man durch einen dramaturgischen Ansatz aus einer Reihe von Video-Clips und grafischen Kunstwerken, die zu Film-Grafiken wurden, ein immersives Show-Format entwickeln kann. Wie bei den anderen hier beschriebenen Projekten ist das ein Schritt hin zum polydimensionalen Sehen, zum Kino 2.0.