Interview mit Nikos Bakounakis, Emeritierter Professor für Journalismus und Erzähltechniken an der Panteion Universität Athen, Abteilung für Kommunikation, Medien und Kultur

Wenn Geschichte auf meisterhafte Erzählkunst trifft, kann dies in Griechenland nur eine breite Leserschaft in seinen Bann ziehen.  Der bekannte Historiker, Journalist und Autor Nikos Bakounakis, der auf eine lange Erfahrung in der griechischen Presse, der Buchwelt und der akademischen Gemeinschaft zurückblicken kann, deckt oft verborgene Aspekte der griechischen und europäischen Geschichte auf und hebt Persönlichkeiten hervor, die ihre Zeit stark geprägt haben.  Es gelingt ihm, die Mikrogeschichte mit der breiteren, vielschichtigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Szene zu verknüpfen.  Indem er historische Umstände und Personen durch seine Augen projiziert, nimmt er den Leser auf magische Weise mit auf eine Reise durch sehr interessante vormoderne und moderne Entwicklungen.  Er zitiert nicht einfach nur Beweise durch Archivrecherchen, sondern nutzt die Technik der „Rekonstruktion“ der damaligen Landschaft, konstruiert dreidimensionale Helden mit oft innovativen Ideen und komponiert ein filmisches Setting mit unendlich vielen Details und Aspekten, wie das Leben ebenso ist, und schafft so Werke, die ein großes Publikum ansprechen.  In seinem neuesten Werk bietet er einen Einblick in das Leben in Patras, Griechenland, Europa und der ganzen Welt während des 19. und 20. Jahrhunderts, nach einer gründlichen Archivrecherche und mit einer meisterhaften Erzählung, die einen süßen Nachgeschmack hinterlässt wie Achaia Clauss‘ Mavrodaphne.

Credit: Paris Tavitian

Nikos Bakounakis wurde 1956 in Patras geboren. Er ist Absolvent der juristischen Fakultät der Hochschule für Rechtswissenschaften in Athen und élève diplômé der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Er hat an der EHESS in Geschichte und Kulturen promoviert. Er ist emeritierter Professor für Journalismus und Erzähltechnikenam Fachbereich für Kommunikation, Medien und Kultur an der Panteion Universität Athen, wo er seit 2003 lehrt. 1997 schuf er die Beilage „Bücher“ in der Sonntagszeitung To Vima, die erste Beilage für Bücher in der griechischen Presse, die er bis 2018 redigierte. Er arbeitet mit Lifo zusammen, wo er Artikel schreibt und den Podcast „Bücher und Autoren“ präsentiert. Er ist Offizier des Ordens der Akademischen Palmen (Officier de l‘ Ordre des Palmes Académiques) der Französischen Republik.

Er hat in Griechenland und im Ausland zahlreiche Artikel und Bücher über Journalismus, die Presse, Ideen, soziale Einstellungen und Verhalten veröffentlicht.  Sein Buch mit Titel „Journalist oder Reporter: Die Erzählung in den griechischen Zeitungen im 19. und 20. Jh.“ wurde mit dem Staatspreis 2016 und dem Preis der Athener Akademie 2016 ausgezeichnet. Sein Buch „Ein Moment Europa im Griechenland des 19. Jahrhunderts: Der Diskurs, das Bild, der Mythos von Andreas Rigopoulos“ wurde mit dem Preis der Athener Akademie 2008 ausgezeichnet.

Es folgt das Interview.

1) Im April 2024 ist Ihr neues Buch „Gutland, Gustav Clauss und das Weinland“ (Hrsg. Polis, Athen) erschienen. Wie lange hat die Archivrecherche gedauert, um die Unterlagen zusammenzutragen und die Geschichte festzuhalten?

Ich habe zwei Jahre lang systematisch in griechischen und ausländischen Archiven gearbeitet, sowohl in physischen als auch in digitalen. Das wichtigste dieser Archive war das des Weinguts „Achaia Clauss“ in Patras. Es handelt sich um ein Archiv, das Dokumente von 1870 bis heute, Fotos, Werkzeuge und Maschinen umfasst. Zu diesem Archiv gehören auch die Gebäude, die Keller, die Fässer mit dem „Mavrodaphne“-Wein, die eine Art Verkostungsbibliothek darstellen, aber auch eine Landschaft, die fast unversehrt erhalten ist, so wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts.

Gutland, Ende des 19. Jahrhunderts (Patras, GR)

2) Beschreiben Sie das Thema, die historische Epoche und die Erzähltechnik, die Sie angewandt haben, um das Werk einem breiteren Publikum als nur Historikern und Weinliebhabern zugänglich zu machen. Haben Sie sich an einem Ihrer Lieblingswerke orientiert?

Das Buch deckt einen großen Zeitraum von einem Jahrhundert ab, von 1852 bis 1949. Ich stelle die Geschichte und die Entwicklung von Gutland dar, einem Weingut, das von dem bayerischen Kaufmann Gustav Clauss (1825-1908) auf einer Hochebene 8 km südöstlich der Stadt Patras gegründet wurde. Der offizielle Name des Weinguts war „Achaia“. Clauss nannte das Gebiet des Weinguts und die Villa, die er dort baute, Gutland, und dieser Name setzte sich durch.

Ich schreibe keine Wirtschaftsgeschichte. Mir geht es vielmehr darum, die soziale Organisation der multinationalen Colonie* aufzuzeigen, die Clauss dort gründete. Es war eine Colonie aus Maltesern, Italienern, Griechen und Bayern, die sich um zwei Kirchen, eine orthodoxe und eine katholische, eine Schule, einen Friedhof und natürlich Häuser, Bäder, Bäckereien, einen Schießstand usw. gruppierte, und das alles auf dem Gelände des Gutlands. 

Diese Organisation wurde auch von den griechischen Nachfolgern von Gustav Clauss beibehalten, nach dem Ersten Weltkrieg von der Familie Antonopoulos. Diese Weinkellerei, die im 20. Jahrhundert unter dem Namen Achaia Clauss bekannt wurde, produziert noch immer ihre Weine, von denen viele auf den von Clauss entdeckten griechischen Rebsorten beruhen. Neben der Nationalbank ist Achaia Clauss das zweitälteste Unternehmen des griechischen Staates, das seit 1861 ununterbrochen tätig ist.

Gustav Clauss, seine Frau Thomais und seine Tochter Amalia
fotografiert in München, im Atelier des Fotografen Pössenbacher, um 1872

Das Buch ist wie ein Roman geschrieben, in dem aber nichts erfunden ist. Das erste Kapitel trägt den Titel „Il Ritorno in Patria“ und thematisiert den Tod von Gustav Clauss im Jahr 1908 an Bord des Schiffes „Baron Beck“ des Lloyd Austriaco, mit dem er nach Patras zurückkehrte. Er wurde auf dem Gutland-Friedhof beigesetzt, wo er sich sein Grab hatte einrichten lassen und auf der Grabplatte einige Verse seines Lieblingsdichters Ferdinand Freiligrath eingraviert hatte.

Das zweite Kapitel trägt den Titel „Austern von den Dardanellen“ und thematisiert Clauss‘ Niederlassung in Patras bis 1852 und seine Heirat mit Thomais Karpouny, der Tochter eines griechischen Artillerieobersts und engen Vertrauten von König Otto, Johann Karpouny, und Amalia von Strunz, der Tochter des bayerischen Kommandanten von Nafplio.

Postkarte des deutschen Händlers Menzer zur Werbung für die griechischen Weine

Das dritte Kapitel trägt den Titel „Gruss aus der Griechischen Weinstube“ und thematisiert vor allem die Verbreitung der Gutland-Weine in Deutschland. Im Mittelpunkt steht hier J.F. Menzer, der erste Importeur griechischer Weine in Deutschland, Gründer der ersten griechischen Taverne in Deutschland „Zur Stadt Athen“ in Neckargemund und Autor des ersten europäischen Führers über griechischen Wein „Eine Weinfahrt durch Hellas„, der 1878 in Manheim erschien und ein großer Erfolg war.

Kinder der Colonie mit ihrem Lehrer. Anfang des 20. Jahrhunderts

Das vierte Kapitel trägt den Titel „Die Colonie“ und befasst sich mit dem Leben in der Gemeinde Gutland: Arbeit und Alltag, Eheschließungen und Mischehen, insbesondere zwischen Orthodoxen und Katholiken, Geburten, Todesfälle, Feste, Schule, Politik, das Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften, und die katalytische Wirkung des Ersten Weltkriegs, der zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Gutland führte.

Kapitel fünf trägt den Titel „Die Mumbai-Pyramide“ und basiert auf einem Archivfund. Es handelt sich um die Fotografie eines Geschäfts in der Esplanade Road in Mumbai, in dem alle Gutland-Weine in Form einer Pyramide ausgestellt sind. Dieser Fund bietet die Gelegenheit, die griechischen Gemeinschaften in Indien, Ägypten und den Vereinigten Staaten vorzustellen, in denen Gutland-Weine konsumiert werden.

Die Mumbai-Pyramide

Er bietet auch die Gelegenheit, die Geschichte zu erzählen, wie der Ruf der Weine auf einer Art Prominenten-Kultur (En. „Celebrity culture“) beruht, mit den zentralen Figuren der gekrönten Häupter Europas, wie Kaiserin Elisabeth von Österreich. Ihr Besuch im Jahr 1885 auf ihrer Jacht Miramar gab mir die Gelegenheit, einige Seiten zu schreiben, die ich faszinierend finde.

Die Marmortafel für den Besuch von Kaiserin Elisabeth

Kapitel sechs trägt den Titel „Weißer Tabak“ und handelt von der Erbfolge, von den Deutschen bis zu den Griechen, und von der „politischen“ Funktion des Weinguts während des Zweiten Weltkriegs, der Besatzung und des Bürgerkriegs. Während der Besatzungszeit ist das Weingut so etwas wie ein neutraler Ort, an dem sich griechische Partisanen und Deutsche der Besatzungsarmee zum Gefangenenaustausch treffen.  

3) Das Buch scheint trotz seines kurzen Erscheinens die Leserschaft bereits in seinen Bann gezogen zu haben, denn eine Neuauflage ist schon fertig. Können Sie Veranstaltungen und Publikumsreaktionen bei den Buchvorstellungen hervorheben?

Das Buch wurde bisher auf der Internationalen Buchmesse in Thessaloniki, in Patras, in der Weinkellerei Achaia Clauss und im Leseclub der Stadtbibliothek in Koropi (Attika) vorgestellt. Ich bin erstaunt, wie unterschiedlich die Lesungen sind und wie viele verschiedene Dinge jeder Leser entdeckt: von der Ideologie von Clauss, der wahrscheinlich ein Sozialist in den Spuren des Henri de Saint-Simon war, bis zum filmischen Charakter der Erzählung.

Jean-Paul Sartre trinkt Demesticha, den Weißwein von Achaia Clauss, in einer Taverne in Athen, 1978

4) Die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse in Griechenland und Europa über einen langen Zeitraum hinweg, von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jh., bilden den breiteren Hintergrund für die Mikrogeschichte, die Sie in Ihrem neu veröffentlichten Werk gewählt haben.  Welche damit zusammenhängenden Trends oder Entwicklungen halten Sie als Denker und Geschichtsforscher für besonders interessant und zeitgemäß?

Zunächst einmal zeigt das Buch, dass es in Griechenland Institutionen und Phänomene gibt, die eine historische Tiefe haben und die zeigen, dass das Land auf paradoxe Weise als modern gelten kann. Zweitens sind die Kommunikations- und Vermittlungsnetze in Europa beeindruckend. Der Wein und sein Handel sind Teil eines großen Kommunikations- und Austauschnetzes.

 Fass mit Mavrodaphne von 1882, im Keller von Achaia Clauss

5) Kann die Colonie, das im Laufe der Jahre auf dem Weingut „Achaia“/Gutland entstanden ist, als Modell für eine interkulturelle Gemeinschaft in der heutigen Zeit der ständigen Bewegung und der Suche nach Identitäten dienen?

Ich glaube nicht. Die Colonie Gutland gehört einer anderen Zeit an. Aber sie zeigt, dass Menschen mit unterschiedlichem ethnischem und kulturellem Hintergrund wunderbar nebeneinander existieren können.

6) Beschreiben Sie uns in einem Satz als Mann des Denkens und der Kultur das moderne Griechenland.

Ein europäisches Land, das sich an einem entscheidenden geopolitischen Scheideweg befindet und das in jedem kritischen Moment immer auf der „richtigen“ Seite der Geschichte steht. (KL)

Das Weinetikett von Santa Helena (Ende des 19. Jahrhunderts)

*Die Colonie: Der Begriff findet sich anstelle von „Kolonie“ im Achaia-Klauss‘ Archiv

Αlle Fotos stammen aus dem Archiv von Nikos Bakounakis und wurden im Buch verwendet

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