Manos Tsangaris ist Komponist, Trommler und Installationskünstler. Geboren 1956 in Düsseldorf, lebt in Köln.
1976–1983 Studium an der Musikhochschule Köln bei Mauricio Kagel (Komposition, Neues Musiktheater) und bei Christoph Caskel (Schlagzeug). Er gilt als einer der international bedeutendsten Vertreter des Neuen Musiktheaters. Neben den musiktheatralen Kompositionen entstehen auch Gedichte, Prosa-Texte und installative wie bildnerische Werke. Von 2016 bis 2024 leitete Manos Tsangaris zusammen mit Daniel Ott die Münchener Biennale für Neues Musiktheater. Seit 2009 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Manos Tsangaris erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, darunter jüngst den Mauricio Kagel Musikpreis der Kunststiftung NRW. Seit 2009 ist er Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik, 2012–2021 war er Direktor der Sektion Musik. Am 25. Mai 2024 wurde Manos Tsangaris zum Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin gewählt.
Griechenland Aktuell sprach mit Manos Tsangaris über seine vielfältigen Tätigkeiten, seinen beruflichen Werdegang und seine kürzliche Auswahl zum Präsidenten der Akademie der Künste Berlin. |
Was bedeutet Ihre kürzliche Wahl zum Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin moralisch, künstlerisch und beruflich?
Zunächst einmal ist es natürlich eine große Ehre für mich, von der Mehrheit der Mitglieder dieser Akademie zum Präsidenten gewählt worden zu sein. Die Moral ergibt sich von selbst. Wir, mein Vize Anh-Linh Ngo und ich, werden unser Allerbestes versuchen, um diesen schönen Dampfer durch schwierige Zeiten zu lenken.
Kann sich diese Wahl auf Ihre künstlerische Kreativität, Inspiration und Produktivität auswirken?
Ich denke ja. Da ich mich immer schon für die Voraussetzungen und Bedingungen des Komponierens interessiert habe, wird auch in diesem Stadium die „soziale Plastik“ auf mich zurückwirken. Eigentlich trenne ich nicht wirklich zwischen den unterschiedlichen Arbeitsgebieten. Komposition und künstlerische Produktion gehen dynamisch ineinander über.
Welche Herausforderungen stellt diese bemerkenswerte Anstellung für Ihre zukünftigen Arbeiten dar?
Ich bin es gewohnt, mit zum Teil sehr großen Institutionen zu arbeiten. Insofern gibt es Kontinuität. Das Schöne hier ist aber die gegebene Vielsprachigkeit und Transdisziplinarität. Unsere Akademie bildet sich aus sechs unterschiedlichen Sektionen: Baukunst, Bildende Kunst, Musik, Literatur, Darstellende Kunst, Film- und Medienkunst. Es ist die große und verlockende Herausforderung, diese verschiedenen Disziplinen miteinander produktiv werden zu lassen. (Nebenbei, es ist keine wirkliche Anstellung, sondern ein Ehrenamt.)
Sie haben sich mit vielen verschiedenen künstlerischen Tätigkeiten beschäftigt: Komposition, Aufführung, Performance, Installation, Musiktheater und Literatur. Was inspiriert Sie und veranlasst Sie jedes Mal, sich für eine bestimmte künstlerische Form und ein bestimmtes Genre zu entscheiden? Wie anspruchsvoll ist es, Inspiration in ein integriertes Projekt zu verwandeln, das bereit ist, auf der Bühne präsentiert zu werden?
Ich mache selten Dinge auf klassischen Bühnen, also im Guckkasten, sondern interessiere mich sehr für die situative Einbindung, Kontextualisierung von Komposition. Das aber mit Werkanspruch, eigentlich sehr traditionell. Welche konkrete mediale Form etwas annimmt, ist immer Teil der Fragestellung oder der Gegebenheiten. Ob es ein Werk im öffentlichen Raum wird, das eines gemischten Ensembles bedarf oder eine Installation im Museum, ein Buch, eine improvisierte Performance usw., die gesamte Disposition also, ist heute eine der grundsätzlichen Fragen von Komposition. Bei mir kommt hinzu, dass ich diese Vielsprachigkeit schon sehr lange betrieben habe. Ich bin eher ein langsamer Gärtner.
Was ist Ihnen in der Kunst am wichtigsten: die Botschaft oder das Medium? Mit anderen Worten: Sind Sie mehr daran interessiert, die Öffentlichkeit zu einem Diskurs über zeitgenössische Probleme (z. B. Klimakrise (‘Rolling Silence’), Liebesbeziehungen (‘Love and Diversity’) usw.) zu locken, oder konzentriert sich Ihr Interesse mehr auf bahnbrechende Experimente mit der Form dieses Diskurses und die Suche nach neuen Kompositionen von Genres, Formen, Klängen und Bildern?
Botschaft und Medium lassen sich nicht wirklich trennen. Sobald ich in öffentlichen, technischen Medien arbeite, rekurriert dies auf den allgemeinen Gebrauch derselben. Soll sagen, eine Arbeit im Rundfunk etwa, lässt dessen Öffentlichkeit immer mitschwingen. Deshalb sind aber die feinen, kleinen, sozusagen homöopathischen Werke, denen erst einmal nichts vordergründig Politisches anhaftet, nicht weniger gesellschaftlich relevant. Im Gegenteil. Oft ist das, was sich nicht politisch labelt oder gebärdet, in der Polis wichtiger und wirksamer als die politpolitischen Verlautbarungen. Die Kunst sucht sich ihre eigenen Sensorien und labyrinthischen Wege, um zu klaren Ergebnissen zu kommen. Oder andersherum: Jede Nachrichtensendung, allein dadurch, dass sie dieses Format repräsentiert, IST schon Inhalt.
Was ist das Musiktheatergenre und welche Resonanz findet es beim Publikum? Wie interagiert das Publikum während einer Musiktheateraufführung damit?
Inzwischen ist das so genannte Musiktheater weit mehr als nur eine Bühnenkunst im hergebrachten Sinne. Insbesondere auch die jüngeren Kunstschaffenden nutzen neue Formate auf höchst selbstverständliche Weise. Das beinhaltet technologische Ansätze, Video, Medienkunst, Laptop-Pieces… ebenso wie Arbeiten im öffentlichen Raum (site-specific, partizipativ…), Installationsformen, Performance – und alle möglichen individuellen Mischungen. Wie gesagt, die Dispositive sind heute Teil der kompositorischen Fragestellungen geworden, allein schon deshalb, weil unser aller tägliches Leben sich im Schnittpunkt so vieler Endgeräte abspielt, die die Öffentlichkeiten umkehren. Nicht mehr die Agora als konkav sich öffnender Raum zählt mehr so sehr, sondern das nach uns Greifen der Browser und Sites in den Endgeräten definiert die Formen auch des politischen Diskurses, der im selben Moment ein ästhetischer sein muss. Denn all das ist gestaltet, designt, komponiert. Aus Ästhetik wird am Ende Macht.
Wie wichtig sind Kritiker für einen Künstler – auch für einen erfahrenen und etablierten Künstler –, wenn er hauptsächlich ein neues Projekt vorstellen möchte?
Kritiker, zumal wenn es aufrichtige und kompetente Kritiker sind, bleiben essentiell wichtig und relevant.
Welches Ihrer Werke liegt Ihnen besonders am Herzen und warum? Gibt es Gemeinsamkeiten in Ihren Werken, bzw. Elemente, die für Sie grundlegend sind und auf die Sie immer wieder zurückgreifen? Welche sind das? Wurden Sie von Ihrem griechischen Hintergrund beeinflusst (z. B. byzantinische Klänge, Volkslieder, antike Mythologie)?
Ich bin nachhaltig vor allem von der Auffassung des Raumes im klassischen griechischen Theater beeinflusst. Eigentlich komponiere ich nur Räume, wo Klänge, aber auch Bewegung, Licht, Objekte, einfach alles integriert ist und miteinander „agiert“. Musikmusik in dem Sinne gibt es von mir gar nicht. Bedeutete nicht musiké einmal „Klangleib des Worts“? Und mit dem Wort wird dann auch die Geste gemeint sein… Dieser Einfluss bei mir war von Anbeginn an ein rein intuitiver. Woher kommt die Sehnsucht danach, alles so differenziert zu gestalten, dass es sich zusammenschließt und synthetisiert? Wieso habe ich diese Sehnsucht auch heute noch? Meine Arbeit habe ich gelegentlich als szenische Anthropologie bezeichnet. Der Mensch – auch als konkrete Schnittstelle und Rezipient – ist immer in der Mitte. Skené bedeutete ja einmal „Zelt“. Es ist also so etwas wie Menschenkunde in Zelten. Und jedes Stück bildet sein eigenes Bewusstseins-Zelt heraus. Die eigentliche Vollenderin des Werks ist immer die Hör-Betrachterin. Ein bestimmtes Werk herauszugreifen fällt mir nach diesen Jahrzehnten natürlich schwer. Aber ich habe schon früh szenische Miniaturen geschrieben, die die Verhältnisse umkehren, wie in winzig (1993/…) etwa. Da werden kleine Publika „immersiv“, wie es heute heißt, bespielt und werden sich im günstigsten Fall gewahr, dass sie, jede einzeln, die entscheidende Instanz sind. Das könnte Modellcharakter haben und ist letztlich bei aller Intimität – etwas Politisches.
Wenn ich persönlich zeitgenössische Musikstücke höre, habe ich als Laie den Eindruck, dass zeitgenössische Künstler Musikkompositionen eher als kreative Experimente betrachten – als eine Herausforderung, Klänge, Instrumente und Formen auf innovative Weise zu kombinieren – und nicht als Stücke, die sich an ein breites Publikum richten. Ich habe andererseits das Gefühl, dass das Publikum moderne Kompositionen, die auf atonaler Musik, experimenteller und minimalistischer Musik, dissonanten Intervallen, verschiedenen Tonleitern, ungewöhnlichen Rhythmen und unkonventionellen Melodiewahrnehmungen basieren, zwar oft interessant findet, aber – meines Erachtens – immer aufgeregter und „behaglicher“ ist, wenn Stücke in klassischen Formen aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufgeführt werden. Zusammenfassend finde ich, dass zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler oft eher auf künstlerisch innovatives Schaffen („die Kunst um der Kunst willen“) als auf das Publikum ausgerichtet sind. Würden Sie dieser Auffassung zustimmen?
Ich kenne diese Meinung und diesen Antagonismus natürlich. Heute sind alle Stile, alle Epochen, alle Interpretinnen, alles ist im Internet verfügbar. Sie können auf ihrem Endgerät bequem 100.000 Stücke speichern. An Beschallung mangelt es keineswegs. Viele Menschen (die meisten?) nutzen Musik, also komponierte Klänge, vorwiegend als Soundtrack im echten Leben. Die Knöpfe im Ohr. Auf dem Fahrrad manchmal sehr gefährlich. Wir schotten uns ab. Wofür nun benötigen wir immer noch Komposition im klassischen Sinne? Noch mehr Beschallung? Noch mehr Meisterwerke? Muss ich der Fortsetzer oder der Vollstrecker Beethovens sein? So konnte ich das natürlich nie sehen. Komponieren bedeutet heute etwas anderes. Die, die es wirklich ernst nehmen, nehmen die tradierten Werkzeuge, also das Nutzen der Erinnerungssysteme wie Konzept, Entwurf, Skizze, Partitur, aber auch Recording, den Rechner, Fotografie und Video, als Medien, in denen man arbeitet, um eine reflektierende Resonanz zu schaffen, um in komplexen Gestaltungsräumen zu denken, auch über diese Medien nachzudenken, die genutzt werden und die uns im Alltag ja regelrecht umzingeln – da ist wieder die gesellschaftliche Relevanz im Spiel – nicht um das nächste Meisterwerk zu kreieren, das bitte unbedingt in der Carnegie Hall gespielt werden muss, sondern um unser aller Situation mittels Komposition genussvoll zu reflektieren. Und es geht natürlich immer noch um Schönheit.
Welche Beziehung haben Sie zu Griechenland und der zeitgenössischen Musikszene unseres Landes? Glauben Sie, dass Künstler in Griechenland den Raum und die Akzeptanz haben, die sie brauchen, um innovative Ideen zu präsentieren, oder ist es notwendig, dass sie die Landesgrenzen verlassen, um sich künstlerisch zu entwickeln? Andererseits, glauben Sie, dass das griechische Publikum bereit und willens ist, an experimentellen künstlerischen Vorschlägen Interesse zu zeigen? Wie unterscheidet sich Ihrer Meinung nach das griechische Publikum vom Publikum in anderen Ländern, wenn es darum geht, neue komplexe künstlerische Ideen wahrzunehmen und zu schätzen?
Ich genieße den Luxus, seit vielen Jahren immer wieder mit meiner Arbeit nach Griechenland eingeladen worden zu sein. Vor allem mit dem Ensemble dissonArt aus Thessaloniki verbindet mich eine langjährige kontinuierliche Geschichte, aber auch mit anderen. Dadurch entstand 2011 mein Love & Diversity, das auf dem Setting von Speeddatings basiert. Das Publikum wandert von Tisch zu Tisch. Die Ensemblemitglieder sitzen einzeln an diesen Tischen. Liebe und Vielfalt sind thematisiert, aber auch adäquat abstrahiert. Das eigentliche „Werk“ insgesamt, auch hier, entsteht stufenweise in den Rezipientinnen. Dieses Stück haben wir in Saloniki, in Athen, auf Chios, aber auch etwa in Salzburg, Hannover und Köln gespielt. Und es ist für internationales Publikum tauglich und erfreulich. Es hat spielerische Komponenten, etwas Humor (nicht zu viel!), es rekurriert auf soziale Alltagserfahrung, ist aber eindeutig artifiziell. Ich denke nicht, dass die Publika sich international allzu sehr unterscheiden. Überall ist entscheidend, dass die Kunst sich nicht überheblich gebärdet, dass es einen humanistischen Aspekt gibt, der glaubwürdig ist. Das heißt aber nicht, dass es bestimmte hermetische und eskapistische Arbeiten nicht geben sollte. Es geht nicht um Quote, sondern um Qualität. Es geht aber auch nicht um zwanghafte Innovation als Fetisch. Ich bin sehr froh, dass ich immer wieder auch in Griechenland arbeiten darf und habe dort eine wunderbar warmherzige, offene und sachkundige Reaktion des Publikums erlebt.
https://www.tsangaris.de/english/biography.htm
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Manos Tsangaris
Titelbildnachweis: Fabian Stürtz
(PS)