„Auf dem Stechginster …“ ist Seferis’ letztes Gedict und zugleich eine fulminante Anklage gegen die Militärdiktatur der Obristen, die sieben Jahre lang, von 1967 bis 1974, in Griechenland herrschte.
Der am Anfang des 20. Jahrhunderts geborene Dichter Giorgos Seferis (1900-1971), der zu den bedeutendsten Vertretern der griechischen Literatur zählt, erhielt als erster Grieche im Jahre 1963 den Nobelpreis. Sechs Jahre danach, und zwei Jahre nach dem Putsch der Obristen, am 28. März 1969 veröffentlichte er im Londoner BBC eine Erklärung gegen die diktatorische Junta, in der er bestätigte, dass: „Diese Anomalie muß ein Ende haben“. Der Dichter starb am 20. September in Athen, ohne den Regimewechsel und die Demokratisierung des Landes erleben zu dürfen. Am 22. September 1971 wurde seine Beerdigung zu einem Demonstrationszug gegen die Diktatur.
Das Gedicht „Auf dem Stechginster …“ erschien zum ersten Mal, am 27. August 1971 in der französischen Zeitung „Le Monde“ und drei Tage nach dem Tod des Dichters, am 23. September 1971, in der griechischen Zeitung „Το Βήμα“. Mit seinem Schwanengesang wollte der Dichter eine scharfe Kritik an der Militärdiktatur üben und prophezeite damit für alle Tyrannen ein ähnliches Ende wie jenes des mythischen Tyrannen Ardiaios, welchen Platon in seinem „Staat“ erwähnt.
Auf dem Stechginster…
Schön war Sunion an jenem Tag der Verkündigung [Mariä]
wieder im Frühling.
Nur wenige grüne Blätter rings um die verrotteten Steine
die rote Erde und Stechginster
bereit zeigte er seine großen Stacheln und die gelben Blüten.
In der Ferne die antiken Säulen, Saiten einer Harfe hallen noch nach…
Stille.
— Was mochte mich an jenen Ardiaios erinnert haben!?
Eine Stelle bei Platon glaube ich, verloren in den Rillen des Gehirns:
Der Name des gelben Busches
hat sich seit jenen Zeiten nicht geändert.
Am Abend fand ich den Abschnitt:
»Sie fesselten ihn an Händen und Füßen«, erzählt er uns
»sie warfen ihn nieder und schunden ihn
sie zerrten ihn abseits zerrissen ihn in Stücke
auf dem stacheligen Stechginster
und gingen los und warfen ihn in den Tartaros, einen Lumpen.«
So bezahlte in der Unterwelt für seine Sünden
der Pamphylier Ardiaios der elende Tyrann.
Deutsch von Helmut Schareika
Bildquelle: ERT
s.d.
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