Constantin Carathéodory, ein Mathematiker griechischer Herkunft, wurde 1873 in Berlin geboren. Kosmopolit, multilingual, Briefpartner von Albert Einstein, hat überragende mathematische Leistungen vollbracht. Er war zugleich ein Mann von ungewöhnlich umfassender Bildung.
Als Sohn von Stephanos Carathéodory, einem griechischen Diplomaten im Dienste des Osmanischen Reiches, wuchs er in Brüssel auf, wo sein Vater ab 1875 Botschafter war. Seine Familie hatte eine lange diplomatische Tradition und mehrere Familienmitglieder bekleideten wichtige Regierungsposten in Konstantinopel. 1886 trat er in das Gymnasium Athénée Royal d’Ixelles ein und studierte dort bis zu seinem Abschluss 1891. Während seiner Zeit an dieser Schule gewann Constantin zweimal einen Preis als bester Mathematikstudent Belgiens.
1879 war ein tragisches Jahr für die Familie, da Constantins Mutter Despina in Cannes an einer Lungenentzündung starb. Constantins Großmutter mütterlicherseits kümmerte sich um die Erziehung von Constantin und seiner Schwester, während ein deutsches Dienstmädchen den Kindern Deutsch beibrachte.
Nach dem Abitur begann Carathéodory eine Ausbildung zum Militäringenieur und besuchte die École Militaire de Belgique. 1897 brach der Krieg zwischen der Türkei und Griechenland aus, was Carathéodory in eine schwierige Lage brachte, da er sich auf die Seite der Griechen stellte, sein Vater jedoch der Regierung des Osmanischen Reiches diente. Da er gelernter Ingenieur war, wurde ihm eine Stelle im britischen Kolonialdienst angeboten. Dieser Job führte ihn nach Ägypten, wo er bis April 1900 am Bau des Assiut-Staudamms mitarbeitete. In Zeiten, in denen die Bauarbeiten wegen Überschwemmungen eingestellt werden mussten, studierte er Mathematik aus einigen Lehrbüchern, die er bei sich hatte. Er besuchte auch die Cheops-Pyramide und führte Messungen durch, die er 1901 aufschrieb und veröffentlichte. Im selben Jahr veröffentlichte er auch ein Buch über Ägypten, das eine Fülle von Informationen zur Geschichte und Geographie des Landes enthielt.
1900 besuchte Carathéodory die Universität Berlin, wo er mit Begeisterung den Vorlesungen des bekannten Mathematikers Frobenius folgte, aber er schloßt sich dann doch lieber Herrmann Amandus Schwarz an und lernte bei ihm und von ihm die Funktionentheorie. 1902 übersiedelte er nach Göttingen in die damalige Hochburg der Mathematik und wählte das Thema “Über die diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechnung“ für seine Promotion. Seinen Doktorgrad erwarb er am 1. Oktober 1904 bei Professor Hermann Minkowski und anschließend arbeitete er als Privatdozent und ordentlicher Professor in Göttingen, Bonn, Hannover, Breslau bis er 1918 dem Ruf nach Berlin, seiner Geburtsstadt, folgte. Bei der Aufnahme Carathéodorys in die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin 1919 hatte kein Geringerer als der mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnete Physiker Max Planck die Laudatio gehalten.
Kurz darauf, 1920, verließ er Berlin wieder, um einem Ruf der griechischen Regierung zu folgen; er soll in Smyrna von Grund auf eine neue Universität gestalten. Am 28. Juli 1920 wurde Carathéodory offiziell zum Organisator der Ionischen Universität in Smyrna und gleichzeitig zum Professor für Mathematik an der neuen Universität ernannt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1921 reiste er durch ganz Europa, um Bücher und Geräte für die neue Universität zu kaufen. Die Türken griffen Smyrna im September 1922 an und so wurde die geplante Eröffnung der Universität im Oktober desselben Jahres unmöglich. Carathéodory konnte die Universitätsbibliothek, an deren Aufbau er so hart gearbeitet hatte, und die meisten Geräte, die er für die wissenschaftlichen Fakultäten gekauft hatte, retten und flüchtete auf einem griechischen Schlachtschiff nach Athen.
“Einer der letzten Griechen, die ich in den Straßen Smyrnas vor dem Einfall der Türken sah, war Professor Carathéodory, Präsident der zum Untergang verurteilten Universität. Mit ihm verließ die Inkarnation des griechischen Genius, Kultur und Zivilisation den Orient“, schrieb der amerikanische Konsul Horton.
Er lehrte in Athen an der Nationalen Universität und der Nationalen Technischen Universität, bis er 1924 nach München wechselte, um den nach Lindemanns Emeritierung frei gewordenen Lehrstuhl zu besetzen. 1925, wurde er zum ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt und einige Jahre später war er in der Akademie mitverantwortlich für die Herausgabe der Werke des großen Johannes Kepler.
Carathéodory bekleidete seine Position in München bis zu seiner Emeritierung im August 1938. Allerdings übernahm er sicherlich viele Aufgaben, die ihn an andere Orte führten. 1928 wured er erster Gastdozent der American Mathematical Society. In den Jahren 1930-32 arbeitete er weiter an der Reorganisation der griechischen Universitäten mit dem Ziel, Griechenland akademisch in Europa zu integrieren. 1936-37 reiste er erneut in die Vereinigten Staaten, hielt einen Vortrag auf der Tagung der American Mathematical Society anlässlich des 300. Bestehens der Harvard University am 31. August 1936 und verbrachte das Wintersemester an der University of Wisconsin als Carl Schurz Memorial Professor.
Carathéodory hat in der Mathematik überragende Leistungen vollbracht. Er beschäftigte sich mit Variationsrechnung, reellen Funktionen, Funktionentheorie, Maßtheorie und der Algebraisierung des Integralbegriffs. Ihm gelangen Durchbrüche, die in der ganzen mathematischen Fachwelt Aufsehen erregen. In seinen Arbeiten verbinden sich phantasiereichste Raumanschauung mit tiefster Abstraktionskraft, sie sind meisterhaft geschrieben. Er beschäftigte sich auch mit Thermodynamik, geometrischer Optik, dem Schmidt-Spiegelteleskop, führte selbst umfangreiche numerische Rechnungen aus, berechnete die Diffraktionskurven aus dem Eikonal. Seine Arbeit wurde auch von Physikern allgemein anerkannt.
Seine besondere Liebe gehörte der Variationsrechnung. Der neue Feldbegriff, den Carathéodory in die Variationsrechnung eingeführt hat, sollte große Folgen haben. Carathéodory leitete daraus eine Ungleichung ab, die 20 Jahre später unter anderem Namen, als Bellmansche Gleichung oder Ungleichung in der mathematischen Welt Aufsehen erregte und die Grundlage wurde für das Prinzip der Dynamischen Optimierung, und inzwischen weit über die Mathematik hinausstrahlt.
Seinen letzten Vortrag “Über Länge und Oberfläche“ hielt er im Dezember 1949 im Münchner Mathematischen Colloquium. Carathéodory starb am 2. Februar 1950 und wurde auf dem Münchner Waldfriedhof beigesetzt.
Aus der Korrespondenz mit Albert Einstein geht hervor, dass Carathéodory ihm wichtige mathematische Erklärungen für seine Grundlegung der Relativitätstheorie geben konnte. “Wenn Sie aber die Frage nach den geschlossenen Zeitlinien lösen, werde ich mich mit gefalteten Händen vor Sie hinstellen“, schrieb er in einem Brief an Carathéodory. Einstein, der selbst ein ausgezeichneter Mathematiker war, hat nicht ohne Grund Rat beim älteren Kollegen Carathéodory gesucht, da sich tatsächlich manche Probleme in der allgemeinen Relativitätstheorie auf Probleme der Variationsrechnung zurückführen liessen.
“Carathéodory war einer der glänzendsten Mathematiker, [er hat] die Wissenschaft um Wesentliches bereichert und entscheidend beeinflußt … ein Mann von ungewöhnlich umfassender Bildung, als Angehöriger der griechischen Nation [hat er] mit dem Höhenflug seines Geistes und rastlosem Streben nach Erkenntnis Tradition und Erbe des klassischen Hellenentums fortgeführt“, sagte Geheimrat Oskar Perron, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am Sarg Carathéodorys.
Prof. Dr. Roland Z. Bulirsch bezeichnet Carathéodory in einem ihm gewidmeten Vortrag am 28. Juni 2007 im Plenarsaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften als “Griechenlands Geschenk an Deutschland“.
Introbild: Constantin Carathéodory/ Quelle: ©www.amna.gr
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