Maike Wöhler ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin und verfügt über langjährige Praxiserfahrung im sozialen und interkulturellen Bereich mit eingewanderten Menschen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der griechischen Arbeitsmigration ab den 1960er Jahren in Südhessen und Norddeutschland.
Im Februar 2020 veröffentlichte Maike Wöhler ihr Buch „Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt“, das die griechische Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert in Wiesbaden thematisiert.
Maike Wöhler hat einen Artikel für „Griechenland Aktuell“ vorbereitet, in dem sie ihr neues Buch mit dem Titel „In Deutschland wartet das Paradies auf uns: Die Olympia-Werke und die griechische Arbeitsmigration in Nordwestdeutschland“ präsentiert. Das Buch wurde im August 2023 veröffentlicht.

„‚Wir sind alle Griechen. Unsere Gesetze, unsere Literatur, unsere Religion, unsere Kunst haben ihre Wurzeln in Griechenland.‘ Wenn es Griechenland nicht gäbe,wären wir alle womöglich noch Wilde und Götzenanbeter‘.“

Das Zitat des englischen Dichters Percy Shelley aus dem frühen 19. Jahrhundert bringt es auf den Punkt, wie die europäische, ja globale Bewegung der „Philhellenen“ diese Region Südosteuropas sah: nämlich alsden einmaligen Ursprungsort der Demokratie, der Philosophie, des europäischen Geisteslebens – als Lebenswelt einer Nation, welcher der Weg in Unabhängigkeit und staatliche Souveränität endlich frei gegeben werden müsse.
Die Rückbesinnung der Europäer*innen auf ihre gemeinsame kulturelle Tradition vereinte sie in der Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft.

Vieles von diesem Wissen ist verloren gegangen: das Wissen über andere Länder, ihren kulturellen Reichtum, die beeindruckenden Potenziale und anderes mehr.

So versucht die aktuelle Publikation der Autorin Maike Wöhler„In Deutschland wartet das Paradies auf uns – Die Olympia Werke und die griechische Arbeitsmigration“die Zeit der griechischen („Gastarbeiter“-)Einwanderung nach Nordwestdeutschland ab den 1960er Jahren bis in die Gegenwart zu beleuchten. Insbesondere ist dieser Band als eine der Menschen gedacht, die mit ihrer vielfältigen Kultur Deutschland – in diesem Fall den Norden Deutschlands, vor allem die Region Friesland/Wilhelmshaven – bis heute nachhaltig prägen.

Ein Kernelement der Publikation bilden die Lebensgeschichten der Griechinnen und Griechen, die im weltweit bekannten Büromaschinen-Olympia Werkvor den Toren Wilhelmshavens im kleinenSchortens-Roffhausen tätig waren und im Landkreis Friesland und Wilhelmshaven in firmeneigenen „Ausländer“-Wohnheimen in der Anfangszeit untergebracht wurden.
Viele emigrierten Mitte des 20. Jahrhunderts aus Griechenland, um, wie viele andere angeworbene ausländische Menschen auch, ihre Arbeitskraft Nachkriegsdeutschland vorerst befristet zur Verfügung zu stellen. Es ist eine Spurensuche auf den Pfaden griechischer Menschen, die vor nunmehr über sechs Jahrzehnten ausgewandert sind, in die ganze Welt  auch nach Deutschland.

Griechische Olympianerin in der Produktion, 1964 © Stadtarchiv Wilhelmshaven/Sammlung Arbeiterarchiv – Dr. Hartmut Büsing

Hier beginnt die Migrationsgeschichte im Zuge der Gastarbeiteranwerbung in der Bundesrepublik; sie wird inzwischen von der Folgegeneration fortgeschrieben. Bei den ersten Recherchen stellte sich heraus, dass die Thematik der Arbeitsmigration am Beispiel der Olympia Werke in der Geschichte der Zuwanderung der nordwestdeutschen Region praktisch Neuland darstellte.

„Endlich kommt jemand nach so vielen Jahren und schreibt unsere Geschichte auf!“

Dies waren die allerersten Worte, mit denen die Autorin im Januar 2020 von Paul Fostiropoulos, dem ersten Dolmetscher der griechischen Gastarbeiter*innen der Olympia Werke Roffhausen, in ihrem ersten Interview zur Geschichte der Arbeitsmigration begrüßt wurde.

Paul Fostiropoulos, der erste Dolmetscher für ausländische Arbeitskräfte der Olympia Werke Roffhausen: „Nach so vielen Jahren fragt mich jemand über unsere Geschichte. Endlich!“

Die Geschichte der (griechischen) Zuwanderung wird sichtbar

In diesem Buch erhalten die migrierten Menschen des Landkreises Friesland nach über 60 Jahren erstmals eine Stimme. Nach der Zeit der Unsichtbarkeit und des Schweigens kommen in dieser Publikation die ehemaligen Arbeitsmigrant*innen der Olympia Werke zu Wort. Die Geschichte ihrer Zuwanderung wird auf der Grundlage kulturwissenschaftlichen Forschens sichtbar gemacht – und die Geschichte der Migration durch die über 50 Interviews mit griechischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen lebendig. Sie prägt die Menschen des Aufnahme- und des Abwanderungslandes. Diese Menschen mit Einwanderungsgeschichte ernst zu nehmen, heißt, biographische Selbstzeugnisse zu sammeln, diese chronologisch zu ordnen und in einem historischen Kontext zur Diskussion zu stellen.

„Koffer Kuli“, Bahnhof Wilhelmshaven mit griechischen Gastarbeiter*innen, 1970 © WZ Bildarchiv/Stadtarchiv Wilhelmshaven

Innerhalb der Interviews, die auf der Grundlage der Oral History geführt wurden, entstand ein geschützter Raum, in dem die „ruhenden, schlummernden“ Erfahrungen und Erlebnisse oft zum ersten Mal bewusst an die Oberfläche geholt werden konnten. Die biographischen Schilderungen waren begleitet von Tränen, Wut, Trauer, Resignation, aber auch Zuversicht.

„Deutschland war kein gelobtes Land für mich. Da gab’s Arbeit, da fahr ich halt hin. Das hätte auch Australien sein können oder Frankreich oder Schweden. Erwartungen? Ich bin auf diesen Zug aufgesprungen und wollte auf dieser Welle mitreiten. Und Erwartungen, ja: Geld verdienen. Wenn mir was nicht passte, so sagte ich mir, dann gehe ich.“
Aristidis T., 79 Jahre, Olympianer

Gegen das Vergessen anschreiben

In dieser Publikation geht es um einen Prozess der Annäherung an die fast vergessene Geschichte der griechischen Zuwanderung in der Region Friesland/Wilhelmshaven. Die biographischen Geschichten der Emigration überdauerten die Zeit bis in die Gegenwart. Die Zeit der Unsichtbarkeit und des Schweigens fand ihr überfälliges Ende: endlich können die Betroffenen selbst sprechen.

„Wir dachten, in Deutschland wartet das Paradies auf uns. Das wurde uns im Dorf so erzählt. Dann kamen wir im Winter am kalten Bahnhof in Wilhelmshaven an. Es war dunkel, kalt, wir froren – nicht schön. Das Paradies war dann doch wohl in Griechenland.“
Anastasios T., 82 Jahre, Olympianer

Eine seiner zentralen Botschaften lautet:Die griechische Exil-Community hat im Norden Deutschlands ihre gesellschaftliche Integration aus eigener Kraft geleistet.
Trotz mangelhafter Unterstützung und Integrationsbemühungen von deutscher Seite konnte griechisches Leben und griechische Kultur einen festen Platz in vorgegebenen deutschen Strukturen identitätsstiftend gepflegt werden.
Eigene soziale Netzwerketrugen dazu bei, dass die Zugezogenen nicht Außenseiter blieben, sondern aktiver Teil der lokalen Zivilgesellschaft wurden.
Selbstorganisation wird oft als Mittel ethnischer Abgrenzung denunziert.
Das Beispiel der griechischen Zuwanderung beweist: Selbstorganisation kann das genaue Gegenteil leisten – eigene Stärke in den Mut zur Teilhabe wandeln, identitätsfördernd sein, ohne Parallelwelten zu schaffen.

Die Annäherung an die griechische Community und die damit verbundene Forschung gestaltete sich anfangs etwas schwierig – die Olympia Werke waren seit nunmehr über 30 Jahren geschlossen, viele ehemalige griechische Olympianerinnen seit langem in Rente, nach Griechenland remigriert oder bereits verstorben. Durch beständige Recherchen und Kontaktaufnahmen zu griechischen und deutschen Zeitzeuginnen und ehemaligen Olympianerinnen, außerdem durch Gespräche mit wichtigen Akteurinnen vonseiten der Gewerkschaft, Politik, Behörden, Vereinen und Verbänden konnte, trotz der sehr eingeschränkten Quellenlage, ein umfassendes Bild der griechischen Zuwanderung im Raum Friesland im Zuge der Arbeitsmigration gezeichnet werden.

Gastarbeiterinnen in der Produktion © Stadtarchiv Wilhelmshaven/Sammlung Arbeiterarchiv – Dr. Hartmut Büsing

Dieses Buch basiert auf einer von der Autorin initiierten Forschungsarbeit, die sich mit der Geschichte der griechischen Zuwanderung am Beispiel der Olympia Werke im Raum Friesland und Wilhelmshaven befasst. Über 60 griechische und deutsche Zeitzeug*innen wurden auf der Grundlage eines halbstandardisierten Interviewleitfadens und narrativ-episodischer Interviews befragt; über 20 Interviews wurden davon transkribiert und nach den Themen „Formen des Ankommens in Deutschland“, „Arbeit und Leben in Friesland“, „kulturelle Identität“, „Spracherwerb“, „Identifizierung des Begriffs ‚Heimat‘“ und „Formen der Integrationsprozesse der Migration“ ausgewertet. So war es möglich, die Hintergründe der (Aus-)Wanderung und die persönlichen Beweggründe der Betroffenen zu verstehen.
Gestützt durch ethnografische Beobachtungen und angewandte Feldforschung wurde versucht, individuelle und übereinstimmende „Migrationsparameter“ zu identifizieren. Trotz eingeschränkter Datenlage und Datenverfügbarkeit gelang es mit den wissenschaftlichen Methoden der Oral History, den weißen Fleck der Geschichte der Zuwanderung im Landkreis Friesland ab Mitte der 1960er Jahre bis zur Gegenwart mit Leben zu füllen.

„Egal, wie süß das Brot war, es war bitter. Alles war bitter.“

„Wir haben, als wir in München mit dem Auto ankamen, ich weiß noch genau … meine erste Wurst habe ich da gegessen. Ausgerechnet Weißwurst. Ich habe gesagt, ist das Souvlaki, so wie unseres? Und dann bekommst du diese weißen Würstchen da, mit so einem Toastbrot, und das war süß, dieses Brot. Das war schrecklich. Mein Gott, machen sie das aus Kartoffeln, oder warum ist das so weiß und süß? Egal, wie süß das Brot war, es war bitter. Alles war bitter. Das Ankommen war nicht schön.“

Eleni M., 66 Jahre

Bei der Buchübergabe von links: Landrat Sven Ambrosy, Autorin und Kulturwissenschaftlerin Maike Wöhler und Frank Schnieder von der TCN-Marketing GmbH

Die Geschichte und die Geschichten der griechischen Migration konnten im Miteinander von griechischen und deutschen Zeitzeug*innenund im gegenseitigen Austausch erstmalig historisch aufgearbeitet werden  die beste Voraussetzung dafür, dass sie nie vergessen werden und zur Erinnerungskultur beitragen.
Dank zahlreicher Unterstützerinnen und Unterstützer und, vor allem, dank der Förderung des Landkreises Friesland und dem Verband der „Oldenburgischen Landschaft“ konnte dieses Buchprojekterfolgreich realisiert werden.

Das Erforschen der Vergangenheit trägt so zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema Zuwanderung bei. Forschen und Schreiben bedeutet, nicht nur gegen das allgemeine Vergessen anzukämpfen, sondern die Vergangenheit und die wichtige Ära der Migration abzubilden und somit für die heutigen Generationen – für die Zukunft – festzuhalten. So wird die Geschichte der griechischen Arbeitsmigration auch in Nordwestdeutschland wieder lebendig, präsent und aktuell.

Aktueller Hinweis und weitere Informationen:
Die Autorin Wöhler arbeitet momentan ehrenamtlich mit einer Projektgruppe bestehend aus einer griechischen Zeitzeugin, ehemaligen Olympianern, Gewerkschaftsvertretern und der früheren Migrationsbeauftragte der Stadt Wilhelmshaven über einen gemeinnützigen Verein an einem Konzept für eine geplante Ausstellung zum Thema der griechischen Zuwanderung. Für die Realisierung des Vorhabens werden noch Sponsoren gesucht.

Text und Fotos mit freundlicher Genehmigung von Maike Wöhler

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(PS)