Zum Abschluss des griechischen Jubiläumsjahres zum 100. Geburtstag der beiden großen Musiker Mikis Theodorakis und Manos Hadjidakis hat Griechenland aktuell die Ehre, ein Interview mit dem Intellektuellen und Künstler Asteris Kutulas zu führen.

Es ist echt eine Herausforderung, in wenigen Fragen das Werk und die Erfahrungen eines ganzen Lebens eines Menschen zusammenzufassen, der eng mit Mikis Theodorakis zusammengearbeitet hat, er noch immer über die Größe der Kunst des großen Musikers schreibt und Filme dreht, griechische Dichter übersetzt und weiterhin das ausländische und griechische Publikum mit Musik und künstlerischem Schaffen inspiriert und begeistert. Genießen Sie die Antworten von Asteris Kutulas über Mikis Theodorakis und Manos Hadjidakis, die Kultur von heute und die Kunst, die den Menschen von heute immer wieder bewegt und zum kritischen Nachdenken anregt.

Mikis Theodorakis und Asteris Kutulas, Berlin, 1986
©Privatier_AstiMusic

1. Sie wurden in Rumänien als Kind griechischer Eltern geboren, lebten seit Ende der 1960er Jahre in der DDR und später in Berlin. Heute reisen Sie regelmäßig nach Griechenland, Zypern und anderswo. Was sind für Sie die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Griechenland heute?

Für mich persönlich ergänzen sich beide Kulturen – mein „deutscher Geist“ und meine „griechische Seele“.

Beide Länder haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert – gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell. Deutschland ist heute ein hochstrukturierter Staat mit starkem institutionellem Rückgrat, während Griechenland für mich ein Ort der Kreativität im Chaos geblieben ist. In Griechenland wird vieles improvisiert, dort herrscht ein existenziellerer Zugang zum Leben.

Die Gemeinsamkeit liegt vielleicht im tiefen Wunsch nach „Gerechtigkeit“ – auch wenn dieser Wunsch in beiden Ländern ganz unterschiedliche Formen annimmt. Sowohl in Deutschland als auch in Griechenland wird der demokratische Status der Gesellschaft herausgefordert und in Frage gestellt.


2. Welche Rolle spielt die griechische Diaspora für die Entwicklung des heutigen Griechenlands und seiner Stellung in der Welt?

Die Diaspora ist ein lebendiges Band zwischen Griechenland und der Welt. Sie ist Brücke und Spiegel zugleich – Brücke zu anderen Kulturen, Spiegel für Griechenland selbst. Ich glaube, dass viele kreative, visionäre Impulse von außerhalb kommen, weil die Diaspora oft gezwungen ist, sich kulturell zu behaupten und neue Wege zu gehen. Gleichzeitig tragen die GriechInnen der Diaspora ein Idealbild Griechenlands in sich, das mit der Realität nicht immer übereinstimmt. Das kann schmerzhaft sein, aber auch produktiv.

Dichter Yannis Ritsos mit Mikis Theodorakis, 1984 – ©Privatier_AstiMusic

3. Die Musik und die Poesie – etwa bei Theodorakis oder Hadjidakis – hatten großen internationalen Erfolg. Was hat sie so universell gemacht?

Beide Komponisten schufen Werke, die tief in der griechischen Tradition verwurzelt und gleichzeitig universell verständlich sind. Theodorakis verband Lyrik mit Musik auf eine Weise, die eine zutiefst humanistische Botschaft mit dem Poetischen verschmolz – seine Musik war nie bloß Unterhaltung, sondern immer auch ein Statement. Hadjidakis schuf eine Musik der Innerlichkeit, des Melancholischen, des „Zarten“. Gemeinsam war ihnen das Streben nach Schönheit – nicht als Dekoration, sondern als tiefer Ausdruck der Würde des Menschen. Ihre Musik wurde von Menschen überall auf der Welt gehört, weil sie emotional ehrlich und existenziell war.


4. Wie haben Sie Mikis Theodorakis kennengelernt – und was war die Basis Ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit?

Ich begegnete Mikis 1980 in Berlin – bei der DDR-Premiere seines „Canto General“. Ich studierte Germanistik und Philosophie in Leipzig – und traf plötzlich auf das Phänomen Theodorakis, auf eine Art „Naturgewalt“. Mikis war für mich Diskussionspartner, Mentor, Freund – und in den letzten 15 Jahren künstlerischer Partner. Meine Zusammenarbeit mit etlichen jüngeren Künstlern aus aller Welt in den Bereichen Musik, Eventkunst, Film ließ ihn in Kontakt mit der weitaus jüngeren Generation sein, deren Lebenssituation ihn beschäftigte. Das inspirierte ihn bis ins hohe Alter. Er blieb im Dialog. Unsere Beziehung war sehr intensiv, immer ehrlich, teilweise spannend kontrovers und von gegenseitigem Vertrauen geprägt.


Mikis Theodorakis beim Konzert – ©Privatier_AstiMusic

5. Sie beschäftigen sich weiterhin mit Theodorakis – etwa durch neue Dokumentarfilme oder Publikationen, auch international. Gibt es eine zentrale Botschaft seines Werks, die heute noch relevant ist?

Ja – und sie lautet: Freiheit. Nicht als abstrakter Begriff, sondern als konkrete Haltung gegenüber dem Leben. Dafür ist er mehrmals inhaftiert worden, ist brutal gefoltert worden und musste unsägliche Repressalien ertragen. Mikis war ein Komponist der Freiheit – künstlerisch, politisch, geistig. Er glaubte an die Macht der Kunst, Menschen zu verbinden, zu berühren, zu erheben. In einer Zeit der Fragmentierung und der Angst brauchen wir wieder Stimmen, die uns daran erinnern, dass Schönheit, Mut und Haltung keine Gegensätze sind. Theodorakis hat das vorgelebt. Es liegt an uns, sein Vermächtnis lebendig zu halten – nicht durch Nostalgie, sondern durch unsere eigenen Werke.


Mikis Theodorakis mit Asteris Kutulas – ©Privatier_AstiMusic

6. Welche Ihrer künstlerischen Projekte konnten ein breites Publikum berühren – und warum?

Vielleicht war „Recycling Medea“ so ein Projekt. Ich habe es zusammen mit meiner Frau Ina Kutulas realisierte. Ein Hybrid aus Tanz, Film, Doku, Mythos, aktuellem Gegenwartsgeschehen – über die Brutalität einer Gesellschaft, die ihre Kinder opfert. Der Film lief in vielen Ländern und wurde kontrovers diskutiert.


7. Sie bleiben experimentierfreudig und innovativ. Woran arbeiten Sie derzeit?

Ich arbeite mit Ina und internationalen Partnern an der Entwicklung des Flexodroms – einem mobilen, modularen Theaterbau für immersive Eventformate. Parallel entsteht ein „Meta-Musical“ über Marlene Dietrich und ein neues Showformat namens Spheros, das Musik, Licht, Architektur und digitale Kunst verbindet. Unser Ziel ist nicht nur Unterhaltung, sondern Bewusstseinsarbeit – mit den Mitteln der Kunst. Es geht um ein neues „Erleben“, jenseits klassischer Bühnenformate.

Auch die immersiven Installationen „Medea 21“ und „Electra 21“ mit der Musik von Theodorakis sind Projekte, bei dem wir alte Mythen mit heutiger Realität verbinden. Ich glaube, dass Kunst dann kraftvoll ist, wenn sie Wunden bloßlegt – aber nicht zynisch wird.


8. Abschließend: Hat Kunst in einer Welt voller Krisen und Konflikte noch eine Aufgabe?

Mehr denn je. In einer Zeit, in der Narrative zerbrechen und Gewissheiten verschwinden, bietet Kunst selten universelle Antworten – aber sie kann dringende Fragen aufwerfen und zum Antikörper gegen jedwede Art von Diktatur werden. Sie ist ein Ort der Empathie, der Imagination, der Verbindung von Zeiten und Orten. Kunst ist keine Dekoration der Welt, sondern Mittel des Widerstands gegen Verrohung. Sie kann nichts grundsätzlich verhindern oder ungeschehen machen – aber sie kann uns verändern und weiterdenken lassen. Und das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt. (KL)

Mikis Theodorakis und Asteris Kutulas – ©Privatier_AstiMusic

Lebenslauf

Asteris Kutulas wurde 1960 in Rumänien als Sohn griechischer Emigranten geboren, die 1968 in die ehemalige DDR umziehen mussten. Er besuchte in Dresden die Kreuzschule und studierte von 1979 bis 1984 Germanistik und Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig. Übersetzte seit 1981 zahlreiche Werke bedeutender griechischer Autoren ins Deutsche. Außerdem veröffentlichte Kutulas eigene Bücher und eine Vielzahl von Texten, Interviews und Übersetzungen in verschiedenen deutschen, griechischen und englischsprachigen Zeitschriften und Zeitungen.

Kutulas gab von 1987 bis 1989 in der DDR die „inoffizielle“ Publikationsreihe BIZARRE STÄDTE heraus, an der sich viele Autoren, Maler und Musiker beteiligten, sowie von 1990 bis 1991 die Zeitschrift SONDEUR. Lebte von 1992 bis 1996 in Athen.

Arbeitete von 1981 bis zu seinem Tod 2021 mit dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis zusammen, mit dem er Dutzende Alben produzierte und weltweit über 100 Projekte realisierte. 1998 veröffentlichte Kutulas das Theodorakis-Werkverzeichnis.

Seit Anfang der Achtziger Jahre arbeitet Kutulas als Autor, Regisseur, Dramaturg und Produzent bei diversen Filmproduktionen sowie bei Theater- und Showinszenierungen.

Seit Anfang der neunziger Jahre Musikproduzent.

www.asteris-kutulas.de

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