Mehrere Jahre lang hat Maike Wöhler, Kulturwissenschaftlerin und Autorin, an Forschungsprojekten gearbeitet, die eher unbekanntes Land sind. So erforscht sie in Ihrer jüngsten Studie die griechische Arbeitsmigration der frühen 1960er Jahre. Das Buch mit dem Titel „Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt“ widmet sich einem speziellen Thema: Der griechischen Arbeitsmigration in Wiesbaden im 20. Jahrhundert. GRIECHENLAND AKTUELL sprach mit der Autorin Maike Wöhler, über die griechische Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert in Deutschland, über individuelle Migrations- und Integrationsprozesse sowie über das heutige „Flüchtlingsproblem“.
In Ihrer Publikation widmen Sie sich einer Thematik, die bis heute wenig Beachtung fand. Es handelt sich dabei um die griechische Arbeitsmigration in Wilhelmshaven und zwar um die „Einwandererfamilien“ der 1. und auch der 2. Generation ehemaliger „Olympianer“. Möchten Sie uns von Ihrem Forschungsprojekt erzählen?
Anfang 2020 entstand die Idee zu einem eigenen Forschungsprojekt zur griechischen Arbeitsmigration in Wilhelmshaven. Nach dem vorangegangenen erfolgreich abgeschlossenen Projekt „Vom Weggehen und Ankommen“ – Über die griechische Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert in Wiesbaden (in Kooperation mit der Griechisch-Orthodoxen Pfarrgemeinde „Heiliger Georgios“ Wiesbaden-Mainz) entstand im Zuge der Forschungsrecherchen eine Kooperation zu den ehemaligen Betriebsratsmitgliedern der Olympia Werke und zu ersten griechischen (Gast-) Arbeiter*innen.
Der Fokus der Arbeit liegt ethnografisch auf den sogenannten „Einwandererfamilien“ der 1. und auch der 2. Generation ehemaliger „Olympianer*innen“. Die Erfahrungswerte zum Thema Migration und Integration der griechischen Zuwandererinnen und Zuwanderer der „1. Stunde“ sollen erforscht und erfasst werden. So erhalten sie die Möglichkeit, ihre Erfahrungen der eigenen jahrzehntelangen Migration zu erzählen und im Rahmen einer späteren Publikation für die Folgegenerationen festzuhalten.
Mit diesem Projekt wird ein wichtiger Teil der Arbeitsmigration im Landkreis Friesland und Umgebung abgebildet – regionale Arbeits- und Kulturgeschichte am Beispiel der griechischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten der ehemaligen Olympia-Werke sichtbar gemacht.
Als Erhebungs-Methoden werden im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Feldforschung narrativ-episodische Interviews angewandt. Diesen halb-standardisierten Interviews liegt ein Interview-Leitfaden zugrunde, der sich unter anderem aus den Themenfeldern „Kulturelle Zugehörigkeit“, „Formen der Identität“ und aus den vorangegangenen und (noch andauernden) Integrations- und Migrationsprozessen zusammensetzt.
Das Thema zur Arbeitsmigration am Beispiel der Olympia-Werke entpuppt sich momentan als spannende Herausforderung und als Spurensuche, denn es findet sich bislang so gut wie keine Literatur zum Thema. Obwohl ein kleines Olympia-Museum auf dem ehemaligen Werksgelände existiert, stellt sich die Geschichte der Zuwanderung im 20. Jahrhundert im Rahmen der Gastarbeiter-Anwerbung wie ein weißer Fleck in der Landschaft dar. Nach der Schließung der Olympia-Werke wurden Personalakten, die Aufschluss über Herkunft, Alter und Bildungsgrad der Mitarbeiter*innen geben konnten, sämtlich vernichtet. Auch in den Firmenchroniken und in der Mitarbeiter-Zeitung „Olympia-Ring“ findet sich lediglich ein einziger Beitrag über „ausländische Arbeitskräfte“. Dies ist umso mehr erstaunlich, da zu Spitzenzeiten in den 1960er Jahren in der Zentrale der Olympia-Werke bis zu 5.000 (vorwiegend) griechische Gastarbeiter*innen arbeiteten. Vor diesem Hintergrund sind die Methoden der „Oral History“, dem „Erzählenlassen von Zeitzeug*innen“ wichtiger denn je.
Sie haben unter anderem an einem Forschungsprojekt mit dem Arbeitstitel „Vom Weggehen und Ankommen – Über die griechische Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert in Wiesbaden“ gearbeitet. Würden Sie aus heutiger Sicht sagen, dass die Griechen*innen als Gruppe allgemein eine gelungene Integration in Deutschland darstellen?
Die Menschen der 1. Generation waren Wanderer zwischen zwei Welten, die der ersten Auswanderung und die der (Ein-) Wanderung in Deutschland „in ein Land, welches ich vorher nicht kannte“, so Niko Megalos, der als 13-Jähriger seinem Vater im Jahr 1970 nach Wiesbaden folgte.
Migrationswissenschaftler sprechen davon, dass sich Zuwanderer ein „kulturelles Programm“ der Aufnahmegesellschaft aneignen, um so innerhalb der (neuen) Gesellschaft und mit diesem „Rüstzeug“ problem- und situationsorientiert zu agieren. Diese Kulturaneignung ist wie ein Programm zu sehen: das tradierte Programm bleibt in Teilen erhalten, wird allerdings im Prozess der Migration mit dem Aneignen und dem Kennenlernen der neuen (Aufnahme-) Kultur modifiziert. Dieses Wissen ist wichtig und elementar, um über dieses soziale Handeln sich auch als Teil der Gesellschaft zu verstehen und dazuzugehören.
Teil der deutschen Gesellschaft zu werden, ein Teil der Gesellschaft in Wiesbaden – das war der gemeinsame Nenner der befragten griechischen Migrant*innen.
Die Griechen der 1. Generation, die Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland zu- wanderten, beschrieben eine Co-Existenz von „zwei Heimaten“, die sich in den Jahren der Zuwanderung, Einwanderung und Migration nach und nach entwickelte: „Ich habe zwei Heimaten in mir“ und ich „bin hier verwurzelt“ waren die Kernaussagen der Griechinnen und Griechen. Oft wurde diese Form mit „halb griechisch-halb deutsch“ auch ironisch mit Bezeichnungen wie „Germanolos“ oder „da kommen die Deutsch-Griechen“ betitelt.
Heimat ist bei den befragten Griechen dort, wo man lebt, „heimisch“ ist, wo die Familie ist, die Kinder und Kindeskinder. Die befragten Griechinnen und Griechen der 1. Generation betonten, dass sie sichnach über fünf Jahrzehnten immer noch als „Griechen“ sehen und „im Herzen griechisch geblieben sind“; über die Hälfte der Befragten äußerten, dass sie mittlerweile „deutsch denken und handeln“.
Über 80 % der befragten ehemaligen Gastarbeiter*innen sehen sich auch nach über 50 Jahren in Deutschland bis heute „griechisch kulturell zugehörig“, pflegen die griechische Kultur und identifizieren sich ihrer Meinung nach mit den Werten und Traditionen und geben diese an die Folgegeneration weiter. Aussagen wie „Es ist wie in einer Mischgesellschaft. Es ist beides da“, „Man kann im Grunde beides haben. Es ist ja nicht verkehrt. Es muss ja auch nicht Entweder- oder sein“ und „Offen sein, ohne komplett seine Kultur zu verlieren“ waren ein Zeichen einer Offenheit zur Aufnahmegesellschaft unter Beibehaltung eigener, auch religiöser Kulturpraktiken „Wir sind offen, weltoffen. Vieles kriegst Du ja auch schon in der griechisch-orthodoxen Kirche mit.“
Ein wichtiger Punkt, der sich herausstellte, war, dass sich die Griechen der 1. und der Folgegeneration integriert fühlen, ohne ihre Identität aufgegeben zu haben. Besonders durch das Aufrechterhalten und die Pflege der eigenen Werte und Traditionen, die Pflege der griechischen Sprache, das Begehen der Festtage der griechisch-orthodoxen Religion, den Namenstag, die Fastenzeiten und auch der hohe Stellenwert der Familie scheint in der befragten Gruppe ein „Schlüssel“ der Integration und kein Ausschluss der Integration bzw. eine eventuelle Segregation zu liegen. Das Aufeinander zugehen wird zwar in der Anfangszeit als „nicht einfach“ beschrieben, besonders aufgrund der (noch nicht vorhandenen Deutschkenntnisse), aber in den Folgejahren als bereichernd und als Zugewinn.
Wesentliche Indikatoren der Integration wie die rechtliche Dimension durch die Aufenthaltssicher-heit, aber auch strukturelle Integrationsprozesse wie die Teilhabe am Bildungssystem und Arbeitsmarkt, die kulturelle Integration wie zum Beispiel der Spracherwerb, die soziale Integration am Beispiel der interethnischen Partnerschaften („Mischehen“) zeigen, dass die ehemaligen „Wanderarbeiter“ und „Gastarbeiter“ von einst lange in der deutschen Aufnahmegesellschaft angekommen sind. Besonders am Beispiel der zugewanderten Menschen aus Südeuropa wird sichtbar, wie Migration das städtische Leben kontinuierlich prägt und eine Diversität hervorgebracht hat, ohne die diese Städte heute kaum vorstellbar wären.
Die griechischen Interviewpartner berichteten von individuell geprägten Identifikationsformen, bei denen wesentliche Gemeinsamkeiten bestanden: ihre Herkunft, ihre „Heimat“ verbunden mit kulturellen Werten und Traditionen hielten und halten sie in ihren familiären Sozialräumen durch ihre Lebenspraxis aufrecht. Diese Traditionskette wirkt durch die Generationen hinweg, auch die befragten Menschen der 2. und 3. Generation betonten den Wert und die Wichtigkeit der griechischen Kultur, sichtbar in der Pflege der griechischen Sprache, aber auch besonders der griechisch-orthodoxen Religion. Hier scheint ein Schlüssel ihrer Integration zu liegen, was wiederum die These einer kompletten Assimilation als Voraussetzung zur Integration widerlegt.
Die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter von einst berichteten auch von einem starken Zuge- hörigkeitsgefühl zur Herkunfts-, Migranten- und auch zur Aufnahmegesellschaft. Eine wichtige Dimension dieses Migrationsprozesses machte der Spracherwerb aus: Maria Papandreou beschrieb dies sehr deutlich: „Ohne Sprache bist Du nichts. Wie sollen sie dich denn sehen, wenn du nicht ihre Sprache sprichst?“ Es ist wichtig für eine „Willkommensgesellschaft“, die Integrationsleistungen der Gastarbeiter*innen der 1. Generation zu würdigen und ihnen eine gesellschaftliche Plattform zu geben. Dazu hört auch eine Beteiligung an gesellschaftlichen-politischen Prozessen hin zu Bürgerrechten.
Was waren Ihre Motive über die griechische Arbeitsmigration in Deutschland im 20. Jahrhundert zu forschen?
Mein Ziel ist es, mit meinem ehrenamtlichen Engagement den Zeitzeug*innen eine Stimme zu geben und ihren wichtigen und prägenden Teil der Migration abzubilden.
Durch meine Behördentätigkeit bei der Bremer Senatorin für Soziales und eine durchgeführte IKÖ-Weiterbildung zur „Interkulturellen Kompetenz“ hatte ich den dringenden Wunsch, mich kulturwissenschaftlich mit dem Thema der Zuwanderung und den individuellen Migrations- und Integrationsprozessen auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund ließ ich mich für ein Jahr beurlauben, um mich empirisch mit den Prozessen erfolgter Zuwanderung vor Ort zu befassen. Die Beschäftigung mit dem Thema entwickelte sich auch zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand. So war ich doch vor über 20 Jahren als gebürtige „Rheinländerin“ aus dem Rheinland in den Norden Deutschlands „arbeitsmigriert“, musste allerdings keine europäischen Ländergrenzen überwinden und keine neue Sprache lernen.
Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt“ – mit dem Migrations-Projekt und meinem Buch ist es mir wichtig, nicht nur einen historischen Blick auf die Gegenwart zu werfen, sondern auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu befragen, die den jahrzehntelangen Migrationsprozess erlebt und erfahren haben. Und: In einer „Willkommensgesellschaft“ die Integrationsleistungen“ der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sichtbar werden zu lassen, zu würdigen, aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen und damit ein Zeichen gegen zunehmende weltweite Fremdenfeindlichkeit zu setzen.
Auf Ihrer Webseite zitieren Sie ein schönes Wort von Max Frisch: „Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen“. Wie sehen Sie aus Ihrer Sicht das heutige sogenannte „Flüchtlingsproblem“, welches nicht nur die deutsche Gesellschaft spaltet?
Die Menschen, die in 1960er nach Deutschland kamen, trafen auf ein Nachkriegs-Deutschland, das auf die sogenannten „Ausländer“ gar nicht vorbereitet war. Begriffe wie „Einwanderungsland und Zuwanderung“ etablierten sich erst ab Mitte der 1980er Jahre. Der Zusammenhang zu den Flüchtlingen im 21. Jahrhundert ist so nicht herzustellen, da die frühen „Gastarbeiter“ gezielt von Seiten der bundesdeutschen Arbeitsministerien und Arbeitgebern angeworben wurden, um in Deutschland für eine (vorab) befristete Zeit zu arbeiten. So gab es Anfang der 1960er Jahre in Deutschland über 453.000 unbesetzte Arbeitsplätze – bei einer Arbeitslosenzahl von 256.000. Es fehlten Arbeitskräfte im boomenden Deutschland, die man mit innerdeutschen eigenen Kräften nicht mehr decken konnte.
Anfangs stand Deutschland trotz Wirtschaftswachstum und einem großem Bedarf an weiteren Arbeitskräften einer gezielten „Gastarbeiter“-Anwerbung zögerlich gegenüber. Aufgrund verstärkter Nachfrage auch der Entsendeländer richteten die deutschen Arbeitsbehörden ab 1960 die ersten Anwerbebüros in den griechischen Hauptstädten ein. Mit dem Anwerbeabkommen am 30. März 1960 mit Griechenland stand das Tor zur Arbeitseinwanderung offen. Im Jahr 1961 kamen 21.149 griechische Zuwanderer nach Deutschland, davon über 9.100 aus Nordgriechenland. Schon ein Jahr später stieg die Zahl der nordgriechischen Arbeitskräfte auf 52,1% an.
Die ökonomischen Unterschiede im Herkunfts- und Aufnahmeland waren im ersten Jahrzehnt der Arbeitsmigration sehr groß. Die meisten griechischen Ausreisewilligen stammten aus nordgriechischen Agrarregionen und lebten hauptsächlich vom Tabakanbau, bis die griechische Landbevölkerung Ende der 1950er Jahre schwer von der Tabakkrise getroffen wurden. Schätzungsweise eine Million Menschen und damit fast jeder zehnte Grieche traten im Laufe der Anwerbezeit die Reise nach Deutschland an. Die Wanderungsform der „Gastarbeiterwanderung“ entwickelte sich zu einer Zuwanderung auf Zeit, die spätestens zum sogenannten Anwerbestopp 1973 und mit dem EU-Beitritt Griechenlands endete. Allerdings sind im 21. Jahrhundert wieder verstärkte (Aus-)Wanderungsbewegungen von Griechenland nach Deutschland festzustellen.
*Das Interview führte Athanasios Lambrou
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